Sri Guru und Seine Barmherzigkeit

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Irren ist menschlich. Irren ist unvermeidlich für alle, weil niemand vollkommen ist. Niemand aber möchte unvollkommen bleiben. In allem Lebendigen gibt es ein Element, das nach Vollkommenheit strebt.

Wenn das nicht so wäre, würden wir in uns keinerlei Wunsch verspüren. Unser Streben nach Vollkommenheit ist aber sicher sehr schwach und begrenzt; denn sonst könnten wir das Ziel augenblicklich erreichen. Unsere begrenzte Fähigkeit und Neigung zur Vollkommenheit schafft Platz für einen Ratgeber oder guru. Der Unvollkommene wäre nicht unvollkommen, wenn er nicht der Hilfe von aussen bedürfte. Der Vollkommene wäre nicht vollkommen, wenn er nicht in der Lage wäre, sich selbst zu behaupten oder anderen zu helfen, und das ganz aus eigener Kraft. Somit ist die Unterweisung, die zur Vollkommenheit oder der Absoluten Wahrheit führt, notwendigerweise eine Wirkung des Absoluten selbst, und der von Gott Beauftragte, durch den sich diese Wirkung manifestiert, ist sri guru oder der göttliche Lehrer. Für jemanden, der die Absolute Wahrheit sucht, ist die Unterwerfung unter den guru unvermeidlich. Es gibt jedoch eine Art von Denkern, die glaubt: wenn wissenschaftliche Forschung möglich ist, warum sollte dann nicht auch höheres geistiges Wissen aus dem eigenen Inneren entstehen können? Solche Menschen wissen nichts von der wesentlichen Natur des Absoluten Wissens, dass nämlich Er allein das Absolute Subjekt ist und sich alles andere - wir selbst eingeschlossen - zu Seiner Allwissenden Schau natürlicherweise nur wie ein Objekt verhält. Es ist für das Auge unmöglich, den Verstand zu sehen; es kann mit dem Verstand nur dann in eine gewisse Verbindung treten, wenn der Verstand dies zulässt. In ähnlicher Weise hängt unsere Verbindung mit dem Absoluten Wissen hauptsächlich von Seinem süssen Willen ab. Wir müssen uns einzig auf Seinen Stellvertreter verlassen, eben den geistigen Meister, durch den allein Er Sich uns zugänglich macht. Unsere menschliche Gesellschaft mit ihren besten kulturellen Errungenschaften macht nur einen unendlich winzigen Teil des dynamischen Absoluten aus. Wie anders als durch die direkte und positive Methode der Offenbarung dürfen wir hoffen, irgendeine Vorstellung vom übernatürlichen Wissen über das Unbedingte Unendliche zu verstehen oder zu entwickeln? Alle intellektuellen Riesen erweisen sich als Zwerge vor der Absoluten, Allwissenden Allmacht, die Sich das Recht vorbehält, Sich Selbst ausschliesslich durch Ihren eigenen Bevollmächtigten zugänglich zu machen. Nach bestem Wissen und mit grösster Aufrichtigkeit sollten wir jedoch achtgeben, dass wir uns nicht falschen Stellvertretern hingeben. Gerade dabei aber können wir uns selbst keine grosse Hilfe sein; denn in unserem gegenwärtigen Zustand werden wir hauptsächlich von unserem früheren samskara gelenkt, der in früheren Existenzen erworbenen Natur. "Gleich zu Gleich gesellt sich gern." Aber obwohl wir im allgemeinen von unseren Gewohnheiten überwältigt sind, haben dennoch gerade wir Menschen bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit, frei zu wählen. Denn sonst wird Verbesserung unmöglich und Strafe zur blossen Rache. Wahrheit kann für sich selbst bestehen. Licht braucht keine Dunkelheit, um sich selbst unter Beweis zu stellen. Die Sonne kann aus sich selbst heraus ihre Vormachtsstellung vor allen anderen Lichtern begründen. Für ein offenes und unvoreingenommenes Auge leuchtet der sad guru (der wahre Lehrer) unter allen anderen Lehrern der Erscheinungen hervor. Sri guru offenbart sich hauptsächlich auf zweierlei Art - als Lenker von innen und als Lehrer von aussen. Beide Wirkungsweisen des Absoluten helfen einer individuellen Seele - dem Schüler - das absolute Ziel zu erreichen. In unserem gefallenen Zustand können wir die richtige Anweisung unseres inneren Führers nicht erfassen, und somit wird die barmherzige Erscheinung des Lehrers von aussen unsere einzige Hoffnung und Hilfe. Aber gleichzeitig geschieht es nur durch die Gnade des guru im Inneren, dass wir den wahren Lehrer aussen erkennen und uns zu seinen heiligen Füssen ergeben können. Ein rechtschaffener Schüler muss immer völlig wach gegenüber der Tatsache bleiben, dass sein höchstes geistiges Glück nichts anderes ist als ein wohlwollendes Geschenk vom Absoluten Herrn und nicht ein Recht, das man einfordern oder sich erstreiten kann. Wir sind unserer Wesensart gemäss nur dazu ausgerüstet, in rechter Weise die Gnade Gottes zu empfangen. In diesem Zusammenhang muss man ganz klar verstehen, dass eine individuelle Seele niemals ihrem Wesen nach der Absoluten Person gleich sein kann. Nicht einmal in ihrem befreiten und voll verwirklichten Zustand kann eine individuelle Seele mit Gott eins sein. Die falsche Vorstellung des Einsseins kam dadurch zustande, dass man auf nachlässige Weise nicht mehr unterschied zwischen der Absoluten Person und der leuchtenden Ausstrahlung, die von Ihrem Reich ausgeht, das ewig, spirituell und voller Glückseligkeit ist. Tatsächlich stellt eine individuelle Seele nur einen Teil einer bestimmten Kraft des Höchsten Herrn dar, der sich in einem Zwischenzustand befindet, und in diesem Zustand kann sie in zwei verschiedene Richtungen hin gewandelt werden. Die Seele unterscheidet sich vom Absoluten Wesen sowohl durch die Grösse, als auch durch die Qualität und ist lediglich ein vom Absoluten abhängiges Lebewesen. Mit anderen Worten, der Absolute Herr, Sri Krishna, ist der Meister, und eine individuelle Seele (jiva) ist Sein natürlicher Untergebener oder Diener. Solch eine Beziehung ist beständig und für die jiva wirklich zuträglich. Wegen der freien Wahl und dem gewaltigen positiven Gewinn kann Furcht vor Sklaverei nicht entstehen. Durch die Hingabe an den Absoluten Gott werden die Freiheit und die Individualität der jiva nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern sie können in Ihm allein erst wirklich aufblühen. Individuelle Freiheit und innere Bereicherung sind wesentliche Merkmale derjenigen, die am Absoluten teilhaben, und deshalb fühlen sie sich da so wohl, wie ein Fisch im Wasser oder ein Tier in seiner natürlichen Umgebung. Aber die Freiheit wie auch alle anderen Eigenschaften der Höchsten Person sind unbegrenzt und transzendental. Und diese Eigenschaften versetzen, selbst wenn nur ein Teil davon wirkt, alle bedingten Lebewesen in einen Zustand der Harmonie. Sri guru ist nicht notwendigerweise derselbe wie der Höchste Herr Selbst, aber er repräsentiert vollständig die Essenz der Allmacht Gottes und verkörpert auf umfassendste Weise die höchste Gunst des Herrn und den Dienst für Ihn. Da er der fähigste Diener des Herrn ist, ist er vom Herrn Selbst ermächtigt, alle irregeleiteten Seelen wieder auf den richtigen Weg zurückzuführen. Damit ist der guru der göttliche Bote, der in diese vergängliche und erbärmliche Welt die Botschaft von unsterblicher Hoffnung und Freude bringt. Sein Erscheinen ist das glücksverheissendste Ereignis für die leidende, beseelte Natur und kann mit dem Aufgang des Morgensterns verglichen werden, der den Wanderer, der sich in der Wüste verirrt hat, zurückführt.

Eine sanfte Berührung der barmherzigen Hand von sri guru kann die unaufhörlich strömenden Tränen von allen weinenden Augen fortwischen. Ein Patriot oder ein Menschenfreund macht das Problem nur noch schlimmer mit seinem verzweifelten und vergeblichen Versuch, den tiefverwurzelten Schmerz der leidenden Seele zu lindern, genauso wie es ein unwissender Arzt tut, der einen unglücklichen Patienten allzu eifrig behandelt. Gepriesen sei der Tag, an dem diese arme Seele die grundlose Barmherzigkeit von sri gurudeva erkennt.

Swami B.R. Sridhar

 Dieser Aufsatz wurde erstmalig 1934 in der Zeitschrift „The Harmonist“ veröffentlicht.

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