Svami Sadananda Dasa

(Aus „Der Harmonist Nov.9. 1936) – Fußnoten vom Übersetzer, Erläuterungen entnommen aus „Wisdom Library“ und „Wikipedia“
Zu diesem Thema hielt Herr E.G. Schulze alias Sadananda Das Brahmachari am 10. September 1936 einen Vortrag im Saraswata Auditorium der Sree Gaudiya Math Kalkutta. Kumar Hiranya Kumar Mitter, Councillor der Calcutta Corporation, hatte den Vorsitz.
Der Redner, vormals ein Gelehrter der vergleichenden Religionswissenschaft in Deutschland, gab einen Einblick in das Ergebnis seiner vergleichenden Studien und brachte Vorschläge ein, wie man das Problem lösen könnte eine angemessene Plattform zu gestalten, wo sich Ost und West begegnen können. Er zeigte auf, wie beide Seiten, historisch gesehen, Anstrengungen unternommen haben, um sich durch gegenseitiges scholastisches und intellektuelles Interesse zu verstehen, und wie er glaubt, dass in Zukunft weitere Fortschritte durch eine angemessene Untersuchung des spirituellen Hintergrunds der indischen Kultur und die richtige Kultivierung der Seele in ihrer wahren Funktion im Dienste des Absoluten, d. h. der Quelle aller Existenz und aller ontologischen Beziehungen, erzielt werden können.
Er wies darauf hin, dass es beispielsweise unmöglich ist das deskriptive ontologische* Buch „Gitagovinda” von Jayadeva zu verstehen, wenn wir nicht auf diese ontologische Ebene erhoben worden sind und dadurch uns im Einklang mit dem Autor selbst bewegen können. Der angesehene Verfasser der jüngsten Artikel in Roy's Weekly, wagte in dilettantischer Weise Jayadeva wegen der Abfassung von lasziven Versen anzuklagen, aus Unkenntnis der einfachsten Regeln der hermeneutischen Methode** und die im Westen weit verbreitete Meinung unterstützte, dass in Indien schmutzige weltliche Sexualität als Genuss mit ontologischen erotischen Referenzen vermischt sei.
*Ontologie Lehre vom Seienden‘ bzw. ‚Lehre des Seins, eng verwandt mit der Erkenntnistheorie, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Wahrnehmens und Erkennens auseinandersetzt.
**Die Hermeneutik als Methode ist ein systematisiertes, praktisches Verfahren, um Texte auf reflektierte Weise verstehen und auslegen zu können.
Der Westen erhält nur sehr selten authentische Informationen über dieses Land, und daher ist es sehr schwierig festzustellen, was tatsächlich vor sich geht und was eine Fehldarstellung ist. Letztendlich werden die nicht sehr positiven Schlussfolgerungen, die der Westen aus Schriften wie denen von Kennedy über das religiöse Indien gezogen hat und aus Artikeln wie denen von Roy's Weekly ziehen wird, nicht zur Lösung unseres Problems beitragen. Friedrich Rückert, der Jayadeva sehr schätzte und sein Buch vor etwa 100 Jahren zum ersten Mal ins Deutsche übersetzte, wäre sehr betrübt zu hören, dass heutzutage ein bedeutender Bengale das ontologische Thema so grob falsch einschätzt.

Andererseits können auch westliche Gelehrte die Tragweite des Problems nicht verstehen, wenn sie nur auf die intellektuelle Methode zurückgreifen. Die Gaudiya Math möchte, dass jeder einen unvoreingenommenen Vergleich der verschiedenen Glaubensbekenntnisse anstellt und versteht, dass die umfassendsten, offen dargelegten und weitreichendsten Konzepte der göttlichen Erkenntnistheorie wirklich von einem ontologischen Übermittler angeboten werden.
Sich Ihm zu unterwerfen bedeutet nicht, dass unsere individuelle Freiheit der Forschung beschnitten wird. Das wäre ein grobes Missverständnis des Prinzips der Guruschaft. Es bedeutet nicht auf wissenschaftliche Objektivität zu verzichten, sondern, die intellektuelle Methode durch die geeignete ontologische Methode zu ersetzen. Das bedeutet, dass wir gemäß der Regel für die Methode einer realitätsnahen vergleichenden Religionswissenschaft versuchen müssen, in der Praxis der Tatsache zu folgen, dass im Verhältnis zum Grad der eigenen ontologischen wie psychologischen Existenz ein entsprechender Einblick in die ontologischen wie psychologischen Epistemologien*** gewonnen werden kann.
***Epistemologie: die philosophische Untersuchung der Natur, des Ursprungs und der Grenzen menschlichen Wissens. Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort epistēmē („Wissen“) und logos („Vernunft“) Während Epistemologie die Lehre von der Art und Weise ist, wie wir die Welt erkennen können, ist die Ontologie die Lehre davon, was es in der Welt gibt.
Das System der demokratischen Mehrheiten wird heute in diesem Land viel gepriesen. Die edelgesinnten Menschen seien - so glaubt der Dozent - die Mehrheit. Deshalb sollten sie sich nicht mit denen zusammentun, die ihre eigene Religion auf schändliche Weise entstellen oder die Religion sogar missbrauchen, um ihre unmoralischen Praktiken zu rechtfertigen. Wenn die Inder einen gewissen Nationalgeist haben, sollten sie dafür sorgen, dass solche Dummköpfe aus ihrer Gesellschaft verbannt werden.
Grober Anthropomorphismus* und falsche Praktiken im Namen der Religion haben seit jeher dazu beigetragen, dass es immer mehr Agnostiker und Atheisten gab, die es vorzogen, an keinen wirklichen Bezug zu Gott zu glauben, weil sie nur negative Beziehungen erlebten, und das Negative nicht überwinden konnten und deshalb einen religiös selbstmörderischen Weg einschlugen.
Eine Religion wird in der Regel nach dem Verhalten ihrer Anhänger beurteilt; dies impliziert die große Verantwortung und Bedeutung des individuellen Verhaltens. Kein edel gesinnter, d. h. arischer Mensch wird eine Religion oder religiöse Praxis schätzen, die von dem Wunsch nach längerem oder ausgedehntem Genuss in dieser oder der nächsten Welt diktiert wird.
*Anthropomorphismus: a) Übertragung menschlicher Eigenschaften auf Nichtmenschliches, besonders in der Vorstellung, die man sich von Gott macht
b) menschliche Eigenschaft an nicht menschlichen Wesen übertragen
** Agnostik: Lehre der Unerkennbarkeit“) ist die philosophische Ansicht, dass Annahmen – insbesondere theologische, die die Existenz oder Nichtexistenz einer höheren Instanz, beispielsweise eines Gottes, betreffen – ungeklärt oder nicht klärbar sind. Vertreter des Agnostizismus werden als Agnostiker bezeichnet
Auf dieser pseudoreligiösen Plattform können sich Ost und West niemals begegnen. J. G. Fichte schrieb vor mehr als 100 Jahren:
Das System in der Freude und Genuss von einer kraftvollen Gottheit erwartet wird, ist ein System des Götzendienstes und der Götzenanbetung, ein System, das so alt ist wie die menschliche Verderbtheit und die im Laufe der Zeit nur ihre äußere Form verändert hat. Die kraftvolle Gottheit möge ein Knochen, eine Feder oder ein allmächtiger, all-gegenwärtiger und allwissender Schöpfer des Himmels und der Erde sein; wenn von Ihm Genuss erwartet wird, dann ist es nur ein Götze.
Der Unterschied beider Systeme liegt nur in der besseren Wahl der Terminologie; die Natur des Irrtums bleibt in beiden Fällen die gleiche, und bei beiden bleibt das Herz gleichermaßen pervertiert". Niemand im Osten oder im Westen sollte also glauben, dass eine eudaimonistische* Pseudoreligion das spirituelle Indien repräsentieren kann. Nationalismus als solcher führt zu keinem dauerhaften Ziel, er absorbiert lediglich die aktiven Ressourcen des jeweiligen Landes.
*Eudämonismus (gr. eudaimonismos) ist diejenige Richtung in der Ethik, welche die Glückseligkeit zum letzten Ziel alles Strebens, zum Maßstab des Guten und Schlechten, mithin zum Moralprinzip macht.
Die Nationalisten im Osten wie im Westen haben vergessen, dass es das geistige Indien ist, für das sie zu stehen und dem sie zu dienen haben, nicht der geographische oder historische Boden. Aber solange Indien seinen eigenen wahren Charakter missversteht, ist es kein Wunder, dass der Westen es erst recht missversteht. Die Menschen in diesem Land haben die Lehre der Gita vergessen, dass die Bestimmung und Aufgabe der ewigen Seele, richtig studiert und kultiviert werden soll, während Körper und Geist vergänglich sind.

Körperfunktionen und geistige Prozesse müssen je nach Konstitution, rassischer Veranlagung, Erziehung, Ausbildung, Ernährung, Milieu und anderen Faktoren variieren. Auf der Ebene der Kultur kann es also kaum zu einer Begegnung zwischen Ost und West kommen. Die zivilisatorische Anpassung hingegen bleibt absolut auf der materiellen, grobstofflichen Ebene, und kein Inder sollte denken, dass er durch einen hohen Kragen und eine gestärkte Hemdbrust zu einer höheren Ebene aufsteigt.
Seit der Veröffentlichung der ersten Upanishaden- und Gita-Übersetzungen wurde der Geist Indiens im Westen verehrt. Wilhelm von Humboldt, der 1826 in der Berliner Akademie der Wissenschaften eine Vorlesung über die Gita hielt, schrieb an seinen Freund Gentz: „Ich bin dem Herrn so dankbar, dass er mir ein solches Alter geschenkt hat, um noch die Gita lesen zu können".
Die liberalistische Haltung, die wir z.B. in den Regeln für die Stephanos Nirmalendu Ghosh Lectureship, Calcutta University, oder in den Werken und der Zeitschrift [unlesbar] finden, stammt aus der Unkenntnis der hermeneutischen Probleme der vergleichenden Religionsgeschichte und aus der Überschätzung der eigenen Fähigkeit, auch nur eine, um nicht zu sagen mehrere große psychologische Individuen wie Goethe oder Kalidas intellektuell zu erfassen. Durch solch dilettantischen Verhaltensweisen, erlangt man keinen Zugang auf die ontologische Ebene. Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass der Gegenstand jeder Wissenschaft nur der Inhalt des menschlichen Bewusstseins ist, das in seinen selektiven und emphatischen Prinzipien ganz von der psychologischen Struktur des Individuums abhängt, aber niemals die ungeformte Vitalität, den ungebremsten Fluss des Lebens an sich darstellt. Deshalb kann auch psychologisch die Wahrheit nicht durch die Erforschung der sekundären Wirklichkeiten gefunden werden.
Wir müssen uns auf die Ebene des ontologischen Subjekts selbst erheben, was durch die Kultivierung unserer unterwürfigen Haltung möglich wird, in deren Rahmen wir die Möglichkeit erhalten, dem Absoluten zu dienen. Von der höchsten Kategorie, der ontologischen, werden wir die Möglichkeit haben, in alle niedrigeren Kategorien hineinzuschauen und nicht umgekehrt. Die Gnade des göttlichen Boten kann uns auf die Ebene Seines Dienstes erheben, wo wir einander begegnen, wenn wir nur den aufrichtigen Wunsch haben die wahre Aufgabe und Funktion unseres Selbst zu erkennen und bereit sind, auf alle heterogenen Überlegungen zu verzichten.