Heilig oder Scheinheilig ?

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Im Sanskrit heißt sie Diksha, im Deutschen sagen wir Initiation oder Einweihung dazu. Sie ist die Zeremonie, mit der der Meister dem Neuling zugesteht, den spirituellen Weg zu betreten. Initiation macht möglich, daß das Schlechte und Unreine das Herz des Schülers verläßt und höherer Erkenntnis weicht – wie wirksam sie ist, hängt aber von seiner willigen Mitarbeit ab und ist nicht für jeden gleich. Nur eingeweiht zu sein bewahrt ihn nicht davor, wieder zurückzufallen, falls er nachlässig wird oder gegen die Regeln verstößt.

Initiation dirigiert den Anfänger in die gewünschte Richtung und gibt ihm einen ersten Schub, doch wenn es weiter vorwärts gehen soll, muß er selber die nächsten Schritte tun. Wie stark der erste Anschub ausfällt, hängt ebenfalls von seiner Haltung ab. Die Segnung des Meisters erlaubt ihm, einen Blick vom Absoluten, von der Transzendenz zu erhaschen und den Weg dorthin zu erahnen; trotzdem aber muß er den ins Herz gepflanzten Samen – unter Anleitung des Lehrers – pflegen, wenn dieser sprießen und irgendwann ein Baum werden, Schatten spenden und Früchte tragen soll. Wenn die Seele – nachdem sie sich ein vernünftiges Bild von Gott verschafft hat – sich nicht freiwillig entschließt, Krishna zu dienen, wird ihre spirituelle Sicht bald verfliegen, denn Krishna zwingt niemanden, Ihn zu verehren.

Dennoch: Initiation ist in keinem Fall fruchtlos! Sie ändert die Gesinnung, die Weltanschauung des Schülers. Wenn er nach der Einweihung weiter sündigt, kann er tiefer sinken als der Uneingeweihte; solche Rückschläge aber sind zumeist nicht von Dauer und verhindern nicht, daß er am Ende befreit wird. Der kleinste Schimmer echten Wissens von Gott hat Kraft genug, seine physische und mentale Konstitution für alle Mal und radikal zu ändern, und es ist praktisch unmöglich, dieses kleine Leuchten zu zerstören – außer in extremen, unglücklichen Fällen.

Zweifellos hilft es dem Eingeweihten, der Weisung seines Gurus zu folgen, die ihn Schritt für Schritt zum Absoluten führt. Der echte Meister ist der Retter der gefallenen Seelen. Die Schwierigkeit liegt darin, daß wir – aufgeklärt, modern und emanzipiert, wie wir sind – wenig Antrieb verspüren, uns irgend jemandem unterzuordnen, schon gar nicht in spirituellen Dingen, obschon wir uns bereitwillig dem Arzt ausliefern, wenn uns der Hexenschuß plagt. Die Hingabe zum Arzt kann man nachvollziehen, schließlich liegen die Konsequenzen sonst auf der Hand, gleichwohl: die Gebrechen der Seele außer acht zu lassen, bleibt ebenfalls nicht ohne Folgen. Die Folge ist, daß unsere Intelligenz starr, bedeckt und verwirrt wird – so sehr, daß wir unsere Krankheit nicht einmal mehr sehen können. Es wird uns nicht klar, daß wir ein Problem haben, weil unser Alltag nicht direkt beeinträchtigt ist wie bei körperlichen Störungen. Kein Wunder also, wenn Mann und Frau von heute zwar ganz gern über Gott und die Welt sprechen, sich aber nicht gedrängt fühlen, für ihr Seelenheil sich einem kompetenten Arzt anzuvertrauen.

Fragen, die gelegentlich gestellt werden, sind die: „Um Gott zu verstehen, der schließlich nicht begrenzt ist: warum wird von mir verlangt, mich bestimmten Personen oder Riten zu unterwerfen? Braucht Krishna eine formelle Verzichtserklärung auf meine Unabhängigkeit? Wäre es nicht freizügiger und vernünftiger, uns in Freiheit leben zu lassen wie wir sind, mit all unseren Fehlern, die Er ja schließlich auch geschaffen hat? Und eingestanden, es sei unsere Pflicht, Krishna zu dienen: warum über den Umweg von Dritten, warum können wir uns nicht direkt an Ihn wenden?“

Eine andere Auffassung ist die: „Klar ist es hilfreich und bequem, einen guten Lehrer zu haben, jemand, der seine Schriften kennt und verstanden hat – aber man sollte sich nie jemandem so weit ausliefern, daß ein Bauernfänger Gelegenheit bekommt, zu mißbrauchen. Schließlich kennt man solche sogenannten Gurus zur Genüge. Es ist unglaublich, wie Leute, die offen im Luxus leben, sogar von gebildeten Menschen angehimmelt werden. Wer also will es verübeln, wenn man zögert, sich einem Guru bedingungslos zu ergeben, ganz egal ob dieser nun gut ist oder nicht. In jedem Fall muß ich mir einer Person völlig sicher sein, bevor ich auch nur annähernd daran denken kann, ihn als spirituellen Führer zu wählen; ich muß genügend gute Eigenschaften in ihm sehen, um darauf vertrauen zu können, daß er mir spirituell hilft.“

Gedanken dieser Art sind symptomatisch für den von der liberalen, säkularisierten Gesellschaft geprägten Zeitgenossen, wenn man ihn auf Guru und spirituelles Leben anspricht. Unsere Medien, Wissenschaft und Kunst propagieren Freiheit für das Individuum und sprechen doch im gleichen Atemzug der Freiheit, sich einer Person – wie qualifiziert auch immer – zu ergeben, ihre Berechtigung ab. Von Anfang an wird uns eingeimpft, wie wichtig, ja unumgänglich es ist, daß wir auf uns selbst vertrauen.

Der echte Guru aber, um direkt zu sein, verlangt eiserne Treue und strikten Gehorsam, und der richtige Schüler ergibt sich ihm völlig. Aber: die Ergebenheit des Schülers ist weder irrational, noch ist sie blind. Sie ist vollständig unter der Bedingung, daß der Meister kompetent bleibt. Der Schüler behält sich vor, seine Loyalität an dem Tag zu kündigen, wo ersichtlich wird, daß sein Guru fehlbar ist wie er selbst. Und andererseits wird der echte Guru niemals jemanden als Schüler annehmen, der nicht gewillt ist, sich ihm unterzuordnen.

Es ist obligatorisch für den Lehrer, solche Schüler zurückzuweisen, die nicht aufrichtig folgen wollen. Wenn er dennoch Rebellen und Zweifler einweiht, oder wenn andersherum der Schüler sich einem Bauernfänger ausliefert, der solches Vertrauen nicht verdient, dann ist sicher, daß beide, Schüler wie Lehrer, von ihrer Stufe herunterfallen.

Wer ist nun der echte Meister? Es ist er, der den Absoluten verwirklicht hat! Jemand, der Gott kennt, hat es nicht nötig, sich mit weltlichem Leben zu befassen. Es ist unerläßlich für den echten Guru, in der Transzendenz verankert zu sein – kein materieller Wunsch darf in ihm verbleiben, ob nun gut oder schlecht. Was wir gut oder schlecht nennen, hat im Absoluten keinen Bestand, für Krishna ist alles gut, auch wenn solches Denken gewohnte Vorstellungen übersteigt.

Hingabe zum Absoluten ist nicht echt, solange die Hingabe nicht selbst absolut ist, das heißt, auf der Ebene der Seele passiert. Im spirituellen Leben ist vollständige Ergebung gefragt, in materiellen Beziehungen dagegen ist so etwas wie vollständige Ergebung überhaupt nicht möglich. Geheuchelte Unterwürfigkeit zu falschen Lehrern ist schuld an den abartigen Erscheinungen, die die heutigen Beziehungen von Allerwelts-Gurus mit ihren ähnlich hausbackenen Anhängern hervorbringen.

Jeder nüchtern denkende, unvoreingenommene Leser wird solcher Logik beipflichten. Aber ich höre den Einwand: „Einen echten Meister, wie eben beschrieben, gibt es in dieser Welt doch gar nicht!“ Stimmt. Echte Meister und echte Schüler leben nicht hier, sie leben auf der spirituellen Ebene. Und dennoch kann auch der normale Mensch zum spirituellen Schüler werden – es muß so sein, andernfalls wäre jegliche Religion umsonst. Spirituelle Realität kann jetzt und hier erfahren werden. Doch wer daraus schließt, unser bequemes materielles Leben könne spirituell „veredelt“ werden, liegt falsch: spirituelle und materielle Anziehung sind gänzlich voneinander verschieden, hundert Prozent inkompatibel. Der echte Meister, obschon scheinbar aus Fleisch und Blut, ist keine Kreatur wie wir– kein Wesen dieser Welt kann uns vom Weltlichen befreien. Der richtige Meister ist jemand, der von Krishna gesandt ist für den Zweck, uns spirituelle Existenz zugänglich und greifbar zu machen.

Die viel beschworene Freiheit des Individuums ist in Wahrheit ein schlechter Scherz, ein Phantasiegebilde. Worin besteht unsere Freiheit? Ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns Gottes Gesetzen beugen, hier und genauso in der spirituellen Welt. Mißachtung und Rebellion gegen Seine Regeln sind die Wurzeln unseres Elends, und allen unsinnigen Freiheitsbestrebungen abzuschwören ist die Bedingung für den Zutritt zur Transzendenz.

Wir lechzen nach Freiheit, aber ganz unfreiwillig müssen wir uns den gnadenlosen Gesetzen der Natur fügen. Dieser Zustand ist für die Seele unnatürlich. Unfreiwillige, erzwungene Fügsamkeit kann uns nicht auf die spirituelle Stufe erheben. Obwohl Moral und Ethik etwas sind, denen wir scheinbar freiwillig folgen, ist doch genaugenommen auch Moral ein Einschnitt in unsere Freiheit, der uns durch bestimmte materielle Umstände aufgenötigt wird. Die Seele paßt nicht in diese Welt und rebelliert darum offen oder versteckt gegen jede äußere Dominanz. Sie ist so geschaffen, daß sie sich nur einem frei und vollständig unterordnen kann – dem Höchsten. Also wird der richtige Lehrer die im Griff der Illusion leidende Seele ermuntern, bestimmten Regeln zu folgen, nicht aber den weltlichen (weil sie dies nur noch mehr in Ketten zwängt), sondern den höheren spirituellen.

Was ist eigentlich echte Hingabe? Oft sieht man, wie jemand für fromm oder gar heilig erklärt wird, der äußerlich strikt und vorbildlich spirituellen Regeln folgt – obwohl er im Innern nicht tatsächlich aufrichtig ist, weil es an tiefem Vertrauen fehlt. In solchem Fall ist es dann mit seinem spirituellen Leben wie mit allem im materiellen Bereich: es ist dem Wandel ausgesetzt. Absolutes Vertrauen ist in der vergänglichen Welt – mangels absoluter Wahrheiten – gar nicht möglich; bei allem, was wir tun, folgen wir in gutem Glauben dem, was wir als funktionierend erfahren oder aus seriöser Quelle gehört haben.

Der echte Meister gewöhnt uns diese Art zu Handeln ab, die auf Vertrauen in das mit den Sinnen Erfahrene gründet und klärt uns zunächst einmal auf über die Natur und Gesetze der anderen Welt – Gesetze, die nicht vergänglich, sondern absolut und ewig und von denen der phänomenalen Existenz grundverschieden sind. Es ist an uns, das so gelehrte Abc spirituellen Lebens rückhaltlos aufzunehmen. Wenn der Novize – selbst auch unbewußt – mit halsstarriger, verdrehter Intelligenz dem Guru widerspricht und seine eigenen Wege und persönlichen Überzeugungen verteidigt, wird er auf der Stelle treten. Auch in praktischen Angelegenheiten wird er dann den Anordnungen nicht folgen können, denn man kann bloß entweder materiell oder spirituell handeln, die beiden Welten sind grundverschieden. Zwar wird er dies die ganze Zeit über nicht verstehen und im Vertrauen auf seine angelernte Lebenskunst glauben, er folge dem Lehrer zumindest zu einem bestimmten Maße – um aber der Wahrheit die Ehre zu geben: solange er eigene Meinungen und Auffassungen vertritt, folgt er im Grunde nur sich selbst, und wenn es scheint, als folge er dem Lehrer, dann doch eigentlich nur, weil dessen Anweisung gerade mit seiner Meinung konform geht. Aber weil die beiden Welten schlichtweg nichts gemein haben, ist es reine Illusion, die uns glauben läßt, wir könnten Methode und Ziel des Lehrers verstehen und die Dinge in rechter Weise sehen.

Vertrauen in die offenbarten Schriften ist das einzige, was uns in einem ansonsten utopischen Unterfangen zur Seite stehen kann. Am Anfang wird man weder Schrift noch Lehrer richtig verstehen, gleichwohl geben einem die Schriften den Zugang zum Guru. Und wenn wir durch das Studium der Texte restlos überzeugt sind: „Ich muß mich dem Guru ohne Wenn und Aber ergeben!“, dann, und nur dann kann uns dieser den Weg zur Transzendenz zeigen, in Einklang mit der Methode, die die Schriften dafür geben. Er kann die Methode dann an uns anwenden, ohne Schaden anzurichten, weil er selbst in der Transzendenz zu Hause ist.

Der springende Punkt für uns ist nicht der äußerliche Initiationsritus, wie er dem Auge erscheint (denn was dabei tatsächlich passiert, entzieht sich Geist und Augen, es gehört zur anderen Sphäre), wichtig für uns ist die Überzeugung, daß es unumgänglich ist, einen echten Meister anzunehmen und daß wir diesen auch tatsächlich finden.

Die Gewißheit, den richtigen Helfer zu benötigen, kann sich einstellen, wenn man unvoreingenommen und gründlich über das Thema nachdenkt – ruhig dabei auf sein eigenes Leben und das Beispiel anderer zurückblickend. Und wenn diese Überzeugung einmal gefestigt ist, wird Krishna selbst uns helfen, den Richtigen zu finden: zum einen durch die offenbarten Schriften (die erklären, wie der spirituelle Meister sein und was er tun sollte) und zum anderen, indem Er den echten Guru zu uns schickt, sobald eine Chance besteht, daß dessen Worte auf fruchtbaren Boden fallen. Der Guru predigt auch zu denen, die seinen Worten nichts abgewinnen wollen oder ihn sogar brüskieren – selbst in dem Fall ist es Krishna, der ihn dazu veranlaßt, obgleich es keinen ersichtlichen Grund geben mag.

Seit Urzeiten sorgt der Herr dafür, daß die Information über Sein spirituelles Reich herabkommt, und zwar in Form transzendentalen Klanges, der in den verschiedenen offenbarten Schriften der Welt seinen Niederschlag gefunden hat. Die spirituellen Bücher helfen denen, die gewillt sind, ihren gottgegebenen Verstand zum Erkennen nicht der relativen, sondern der absoluten Wahrheit zu gebrauchen und die unter Führung der heiligen Worte den Kurs zur Erhebung im Leben steuern wollen. Ein Meister trägt seinen Namen nur dann zu recht, wenn er uns den tiefen Sinn der Schriften verstehen lassen kann, wenn er uns die Augen dafür öffnet, wie wichtig es ist, ihrem empfohlenen Pfad vorbehaltlos zu folgen und wie man solches bewerkstelligt.

Trotz alledem: Die Gefahr, daß man betrogen wird, ist nicht zu unterschätzen. Ein schlauer Kopf oder ein Yogi, der einige mystische Fähigkeiten parat hat, kann uns weismachen, daß er die Schriften beherrscht, entweder durch Gelehrsamkeit oder durch Fälschungsmanöver und Tricks. Vorsicht ist hier geboten. Der Gelehrte und der Yogi geben beide vor, die Schriften nur anhand von Dingen und Geschehnissen dieser Welt zu erläutern, obschon die heiligen Bücher selbst freimütig erklären, daß sie mit der materiellen Sphäre nichts zu tun haben.

Wer sind diejenigen, die solchen Machenschaften zum Opfer fallen? Es sind solche, die die materielle verzerrte Spiegelung für spirituell halten, die weltliche Gefühle und physikalische Gesetze mit den spirituellen gleichstellen, obwohl sie nichts als Verzerrungen und Entstellungen derselben sind. Die Gesetzmäßigkeiten der materiellen Welt sind zwar Verzerrungen der ursprünglichen, nichtsdestoweniger sind sie nicht unwirklich, sondern real existent. Sie regieren die Abläufe des relativen Bereiches, und deshalb ist es für uns noch jederzeit möglich, daß jemand, der ein bißchen klüger ist als wir, unsere sogenannten tiefsten Überzeugungen als Provisorium entlarvt, als unzureichend und unbrauchbar. Wenn das geschieht, sind wir überrascht und beeindruckt, aber solche „Wunder“ gehören zum phänomenalen Bereich und sind vom Absoluten grundverschieden.

Menschen, die materiell von spirituell nicht unterscheiden können und die für Gelehrtheit, Mystik und Esoterik schwärmen, geraten in die Netze der Pseudoseelenheiler. Die Lage solcher Opfer ihrer eigenen Verblendung ist prekär, denn man kann niemanden zwingen, sich aus Unwissenheit zu lösen. Kann man jemandem helfen, der sich aus Prinzip weigert, auf die Stimme der Vernunft zu hören? Es gibt viele solcher Leute, und die Tatsache, daß sie gelehrt sein mögen, macht sie dagegen nicht immun. Wenn uns also klar geworden ist, daß wir der Führung des echten Meisters bedürfen, ist es das Beste, uns bei der Suche einzig von den direkten Aussagen der Schriften leiten zu lassen. Sie definieren den Guru als jemanden, der selbst ein spirituelles Leben lebt: es sind nicht materielle Qualifikationen, die ihn kompetent werden lassen.

Und es ist rückhaltlose Hingabe zu diesem Lehrer, durch die uns geholfen werden kann, nach Hause zurückzukehren – ins wahre Zuhause; unglücklicherweise für fast alle von uns jetzt noch terra incognita, unerforschtes Land. Geist und Körper haben dort keinen Zugang, sind sie doch das Symptom unserer Krankheit, unseren gottgegebenen freien Willen zu mißbrauchen – und des damit verbundenen Auftürmens einer erdrückenden Last weltlicher Eindrücke, die für unser Ein und Alles zu halten uns Gewohnheit geworden ist.

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