Das Wort der Offenbarung

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Sadananda an Vamandas 1950 Mayapur-Heft 1, Seite 99

© Kid Samuelsson 2011 zuletzt geändert 19.4.15

Das Wort der Offenbarung, das der Mensch in der Shruti liest, ist genau so wenig ein Wort, in dem Wort, Sache, Idee und Gott eins sind wie der Stein der Bildgestalt (vigraha) Gott ist, noch der Bhakta diesen Stein für Gott hält oder das gelesene Wort für Offenbarung hält, sondern Gott, Form, Sache, Idee und Wort sind identisch als Ausdruck der Svarupa-Shakti. Und das gedruckte oder geschriebene Wort, das gelesen wird, ist genau so wenig ein Schlüssel zur Erkenntnis Gottes wie ein Steinbild oder Holz- oder Metallbild ein Mittel zur Vorstellung von Gottes Eigener Form ist. Es ist auch nicht so, dass nun durch besondere Gnade Gottes dem frommen Leser der wesenhafte Inhalt, den die Worte der Schrift meinen, nun offenbar werde.

Die Worte der Schrift, wie wir sie in den gedruckten oder geschriebenen Shastrams finden, sind ganz gewöhnliche Worte dieser Welt und können in keiner Weise Mittel zur Offenbarung der Gotterkenntnis sein, wenn der Leser nicht von Svarupa-Shakti durchdrungen ist. Deswegen hat der wissende Inder immer gelächelt, wenn ein Europäer Sanskrit lernte und in voller Aufrichtigkeit, Hingabe und mit wissenschaftlicher Treue die Upanishaden übersetzte.

Ohne Svarupa-Shakti hat der Leser, der Übersetzer auch gar nicht das Vermögen, seine eigenen Gedanken und Vorstellungen, seine Vorurteile, die ihm eingeborenen Zuneigungen und Abneigungen, die farbigen Brillen, durch die er gleichsam liest und deren Farbe er unwissentlich in den Text hineinträgt, selbstlos beiseite zu legen und ungeteilt in den Wortlaut des oft befremdenden Textes hinein zu lauschen.

Die Upanishaden, die der Europäer las und übersetzte, haben mit der wirklichen Upanishad sehr wenig zu tun, sie sind bloße Literatur, so sehr der Übersetzer auch versuchen mag, sie religiös würdig aufzufassen. Die eigentlichen Upanishaden, so wie die gesamte Wort-Offenbarung Gottes sind ewig lebendige Gegenwart und können als solche weder geschrieben, noch gedruckt, noch gelesen, noch gesprochen werden. Es ist Svarupa-Shakti, aus der Gott, Sein Reich, die Idee, die Sache und das wirkliche Wort bestehen. Deswegen kann z.B. ein Name Gottes Seinem Wesen nach, von jemandem, der keine Svarupa-Shakti besitzt, auch niemals gehört, gelesen oder ausgesprochen werden.

Es ist die Svarupa-Shakti selbst, die hört in dem Atma des lauschenden Menschen, der vor dem Guru sitzt, ebenso wie es die Svarupa-Shakti ist, die in dem Atma des Guru spricht. Wer zufällig dabei säße, könnte zwar Worte hören, die aus dem Munde des Guru kommen und von dem Ohr des Jüngers vernommen werden und er könnte auch wahrnehmen, wie der Jünger diese Worte wiederholt oder sogar niederschreibt. Solange aber die Svarupa-Shakti nicht in dem Atma des Zuhörers wirkt und er bloß diejenigen Worte, die er mit dem physischen Ohre hört niederschreibt, so hätten diese Worte mit den Worten, die voller Ausdruck der Svarupa-Shakti sind, überhaupt nichts zu tun. Sie verhielten sich zum Svarupa-Shakti-Wort, das identisch mit der Sache selbst ist, wie der Schatten einer süßen Frucht am lebenden, quellenden Baum, ein Schatten, der überdies verzerrt ist, weil er auf eine schräge, unebene Mauer fällt.

So, wie ein herzhafter Biss in die Schattenfrucht auf der rauhen Mauer dem, der die Frucht schmecken will, nur zum Unheil gereicht, denn er beißt in den Stein hinein, so führt das Sich-Beschäftigen mit dem bloßen Schatten des SvarupaShakti-Wortes ohne berufenen Lehrer nur zu Abwegen. Der Unterschied zwischen der Schattenfrucht auf der Mauer und dem Schattenwort der Schrift, das man liest, spricht oder hört, besteht darin, dass die Schattenfrucht, z.B. der Schatten eines Apfels, nicht warnt, wenn man sie anbeißen will, während das Schattenwort der Shruti noch etwas von der Barmherzigkeit der Svarupa-Shakti enthält und immer wieder warnt, es nicht irrtümlich für das Wort der SvarupaShakti selbst zu halten.

Es ist auch nicht so, dass nun ein Gott-erfüllter Mensch durch die gedruckten Worte gleichsam hindurchschauen könnte, in den Sinn, der hinter den Worten liegt, sondern da, wo Svarupa-Shakti ist und wirkt, wird es dem Leser oder Hörer klar und deutlich, dass das wahre Wort von dem grammatisch und akustisch und optisch ausdrückbaren Wort absolut verschieden ist, so etwa wie Wein verschieden ist vom Blute Christi. Während aber Wein nach katholischem Glauben in Blut Christi verwandelt werden kann, kann das grammatikalische Wort nie in das eigentliche Wort verwandelt werden, sondern das eigentliche Wort ist immer dieses Wort und die Svarupa-Shakti offenbart es als identisch mit ihr selbst.

Die große Frage: Wozu werden dann Shastrams gedruckt, geschrieben und gesprochen? Dem, der die süße Frucht am Baum nicht kennt, kann ein Schatten auf der schrägen, unebenen Mauer zum Hinweis werden, nach der wirklichen Frucht zu suchen. Und dem, der dem wahren Wort dienen will, kann das Schattenwort ungefähr andeuten, in welcher Richtung das wahre Wort zu suchen ist, nämlich dort, wo Svarupa-Shakti aus dem Munde eines wahren Gottgeweihten spricht. Das wirkliche Dienen-Wollen gilt im Bhaktiyoga geradezu als das erste Anzeichen dafür, dass Svarupa-Shakti den Atma des Jüngers bereits berührt hat.

Für den Wissenden, so lange er sich nicht im Samadhi-Zustand befindet, ist die Svarupa-Shakti, die mit dem wirklichen Worte identisch ist, die Offenbarerin des wahren Wortes, in dessen Identität mit der Sache. Und die Svarupa-Shakti, die in ihm liest und spricht, liest und spricht nicht das Schattenwort, sondern das wirkliche Wort.

Hier stimmt das Bild vom Schatten und der Frucht nicht mehr. Denn der Wissende sieht den Schatten gar nicht, sondern er sieht nur die Frucht. Und er liest das Schattenwort nicht, sondern er liest das wirkliche Wort. Wenn das Schattenwort der Upanishad usw. durch entstellendes Übersetzen und Erklären misshandelt wird, der Schatten der Offenbarung, die im Buch enthalten ist, entstellt und verändert wird, so tut das dem wirklichen Wort nichts an, genau so wenig ein Riss in der Mauer, dort wo der Schatten liegt, der Frucht am Baum etwas tut.

Der Svarupa-Shakti Wissende kennt das wirkliche Wort und die wirkliche Offenbarung und weiß sofort, wenn ihn der Nicht-Wissende fragt, wo die Schatten-Offenbarung entstellt und verändert ist.

Genau so, wie nun die Cit-Gestalt Krishna’s in Analogie der Menschengestalt beschrieben wird, um aus Barmherzigkeit einigermaßen darauf hinzudeuten, was Gott nicht ist (nämlich nicht gestaltlos), so hilft der Wissende dem, der noch im Intellektuellen befangen ist, durch scheinbar intellektuelle Arbeit, in der Schatten Offenbarung das, was Schatten ist und das, was Verzerrung des Schattens ist, zu erkennen.

Doch das ist eine mittelbare Gnade für den Unwissenden. Es ist so, als ob man jemandem, der den Baum nicht sehen kann, den durch Risse auf der schrägen, unebenen Mauer enstellten Schatten auf ein Blatt Papier zeichnen würde, damit er ungefähr ahnen kann, wie der Schatten unverzerrt aussieht, und falls den Jünger sodann die Svarupa-Shakti Gottes begnadet, kann ihn eben gerade die Kontur dieses Schattens geheimnisvoll auffordern, dem Wissenden als Guru zu folgen und unter Leitung der Svarupa-Shakti, die in dem Wissenden wirkt, sich auf die Suche nach dem Baum zu machen, auf dem das lebendige Urbild der Schattenfrucht im Sonnenlicht und leichtem Winde ewiglich spielt.

Da das Wort, das mit der Sache selbst und der Idee eins ist, als Ausdruck der Svarupa-Shakti ewiglich gegenwärtig ist, spielt das Historische gar keine Rolle. Das Historische (Zeit, Raum) ist gleichsam die Mauer, auf die der Schatten fällt. Das Svarupa-Shakti-Wort, das der wahre Guru spricht, ist identisch mit dem Urwort der Offenbarung und es ist nicht ein besonderer Gnadenakt Gottes, welcher einer besonders auserwählten Persönlichkeit die Kraft gäbe, vom Standpunkt Gottes her, ein bestimmtes theologisches oder seelisches Problem unfehlbar zu lösen, sondern wo Svarupa-Shakti spricht, ist sie eben als solche unfehlbar und identisch mit Gott Selbst.

Die treue Ausdeutung der Schrift ist in diesem Sinn nicht abhängig von der geistigen oder religiösen Struktur des Menschen und seiner Zeit, sondern abhängig von der besonderen Wesensart des Atma, den die Svarupa-Shakti mit gerade demjenigen Aspekt Gottes und Seines Reiches und der diesem Atma entsprechenden Form des Dienens in Verbindung bringt, der er seiner Natur nach ewiglich zugehört.

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